DAS RECHT STEHT ÜBER ADELSTITELN in Wernigerode

Eins lebte in Wernigerode ein Schäfer, der sich durch Fleiß und Sparsamkeit ein kleines Vermögen erworben hatte. Das sollte ihm helfen in seinem Alter sorglose Tage zu verleben. Zu jener Zeit wohnte auf einer Burg über Wernigerode ein böser raubgieriger Graf. Als dieser hörte, dass ein Schäfer aus seinem Amtsbezirk eine stolze Summe Geldes besaß, suchte der Graf ihn eines Tages ganz unvermutet auf und verstand es, dem Schäfer unter Bitten, Drohungen und Versprechungen das Geld „für kurze Zeit“ abzuborgen. Allein, so oft auch der Schäfer später den Grafen aufsuchte und ihn um die Rückgabe des geliehenen Geldes bat, erhielt er doch jedes Mal statt des Erwünschten nur schnöde und abwertende Antworten.

Doch eines Tages war der Graf verschwunden du es hieß, er sei in fremden Landen gestorben. Der Schäfer schlich nun betrübt umher und beklagte bitter seinen Verlust, denn dessen Erben, die Grafen von Stolberg wollten von seiner Forderung ebenso wenig wissen und jagten ihn fort. Einmal hetzten sie sogar die Hunde auf ihn.
Als der Schäfer nun ganz verstört durch den Wald lief, stand plötzlich auf einem dunklen Waldweg ein graues Männlein vor ihm und sprach: „Willst du deinen alten Schuldner sehen, den Grafen? So folge mir!“

Der Schäfer folgte dem Männchen bis zu dem hohen, steilen Petersberge, den man an seiner kahlen Kuppe erkennt. Als die Beiden an dessem Fuße angekommen waren, öffnete er sich mit viel Getöse, nahm sie auf und schloss sich gleich wieder hinter ihnen. Innen war alles ein wütendes Feuer. Der zitternde Schäfer erblickte den Grafen, der auf einem glühenden Stuhle saß, um welchen noch tausend Flammen züngelten. Der Graf schrie: „Schäfer, willst du dein Geld haben, so nimm dies Tuch und bringe es den Meinigen. Sage ihnen, wie du mich im Höllenfeuer hast sitzen sehen, in dem ich bis in alle Ewigkeit leiden muss, wenn sie dir dein Geld nicht zurückzahlen!“

Hierauf riss er sich sein Tuch vom Kopfe und reichte es dem Schäfer. Dieser eilte mit schwankenden Füßen, von seinem Führer geleitet, zurück, der Berg tat sich wieder auf und schloss sich dann gleich wieder hinter ihnen.
Mit dem Tuche eilte er gleich auf des Grafen Burg, zeigte es den Erben und gab Bericht, was er erlebt, gesehen und gehört hatte. Der Grafen von Stolberg-Wernigerode waren umgehend bemüht dem Schäfer das Geld auf Heller und Pfennig, sogar mit Zinsen zurück zu bezahlen, womit der alte, gierige Graf dann wohl seine Ruhe in der Ewigkeit gefunden hat.

Graf Heinrich von Stolberg-Wernigerode ging aber noch einen Schritt weiter: Er wollte nicht nur die alte Schuld begleichen, sondern einen guten Samen für die Zukunft in den Boden bringen und schenkte am 01. Mai 1464 eben diesen Petersberg den „armen sichen luten vorm westeren Thore“. Die armen, kranken Leute besaßen von nun an für alle Zeit das Recht, sich in den bitterkalten Wintern Brennholz zu holen, wodurch dann auch der Bergsporn zu seinem neuen Namen kam: Der „Armeleuteberg“!

(aufgeschrieben von Kiehne nach Schrader, 1941)