DER WEISSE HIRSCH AN DER TRESEBURG

Es war eine totenstille Nacht und der Herbst schickte seine dichten Schleier durch die Täler. Nur hier und da schaute eine Klippe, hoch über dem Bodetal aus dem Dunste hervor und gab den Nachtschwärmern auf der Höhe nur spärlich Orientierung. Zwei Venediger waren aufgebrochen, um wie gehabt über der Treseburg nach Gold und seltenen Mineralen zu suchen, doch bisher waren sie nicht fündig geworden. Nur langsam schoben sie einen Fuß vor den anderen. Wer heute schnell und unbedacht der Wege ging, drohte in der unendlichen Tiefe spurlos zu verschwinden.

Plötzlich ertönte Hörnerklang und Hundegebell aus dem Tal zu ihnen empor. Der Ritter der Teseburg war mit den Seinen auf wilde Jagd ausgezogen, obschon man die Hand vor Augen nicht sah. „Hu-a – Hu-a!“ trötete es zu den Venedigern empor. Dann krachte und knackte es im Dickicht neben ihnen, dass einem Angst und Bange werden konnte, worauf ein Hirsch aus dem Unterholz ins Freie brach. Kurz erstarrte das Tier vor den Zweien. Groß war das Tier, eigentlich sogar gewaltiger als jeder Hirsch den sie jemals zuvor gesehen hatten … und weiß. Weiß wie frisch gefallener Schnee. Wieder ertönte der Hörnerklang und der Hirsch jagte von dannen. Ach, er lief so schnell, als würde er im Nebel sehen können oder kenne jeden Tritt und Stieg. Die Venediger überlegten nicht lange und setzten dem Hirsche nach. So gut es die Kräfte zuließen, sprangen sie durch den Nebel, ohne auch nur das Geringste der Umgebung wahrzunehmen. Immer tiefer ging es ins Tal der Luppbode hinab, bis das Tier mit einem Male vom Erdboden verschluckt ward. Die Männer glaubten ihren Augen nicht zu trauen, beschlossen aber rasch bis zum Morgen an Ort und Stelle auszuharren, hatten sie doch im Nebel ohnehin jegliche Orientierung verloren.

Wie staunten sie nicht schlecht, als am anderen Morgen die Sonne aufging, sich die dichten Schwaden verzogen hatten und sie sich zwischen Felsen wiederfanden, an dem die wunderbarsten Quarzadern zu Tage traten. Viele Jahrzehnte lang, sicherte dieser Erzgang die reichen Rohstoffe für die Hütten um Thale und Treseburg.

Und den weißen Hirsch? Den sah man oft noch am Johannistage, also um den 24. Juni herum. Er soll selbst ein verwunschener Jägersmann sein. Verfolgt man ihn, sagt man und grabe man dort, wo er in der Erde verschwindet, so finde man stets mannigfache unterirdische Schätze.

(aufgeschrieben von Carsten Kiehne nach Oelsner; Bild: Altes Postkartenmotiv)