DIE BLAUE BLUME AUF DER LAUENBURG (bei Stecklenberg)

Einst saß eine liebliche Maid auf der Elfenwiese zu Suderode. Kräuter und Blumen brach sie dort und wusste wohl mit ihrem Tun der Familie zur Hand zu gehen, denn einem so schönen Fräulein kaufte man gerne etwas ab. So verstand sich Anna darauf, ihrem armen Vater zu helfen, wie und wo sie es nur vermochte.
Eines Tages aber kam der Raubritter der alten Löwenburg vorbei geritten, nicht zufällig, wie ihr schien. Er kaufte ihr ein Sträußlein Wiesenblumen ab und fragte sie, wie sie denn heißen würde. „Guter Herr“, sprach sie, „Vielen Dank! Anna nennt man mich!“
„So also, ein hübscher Name für ein hübsches Gesicht. Wie wäre es, wenn du mir auf meine Burg folgen würdest, um mir zu Diensten zu sein und um mein Weib zu werden!“ „Werter Rittersmann ...“, stotterte Anna verlegen, „ich bin ein einfaches Ding, nicht würdig an ihrer Seite zu stehen. Es schickt sich nicht und überdies trage ich Sorge für das Auskommen meines Vaters. Verzeihen sie ..., dass ich verneinen muss!“ Ganz zaghaft, bedacht und freundlich sollten die Worte im Ohr des berüchtigten Raubritters klingen.
Aber kein Verständnis, nur Zorn funkelte in seinen Augen. Er war es nicht gewohnt, Widerworte zu hören, auch nicht solche, die süß und freundlich geformt waren. „Anna, ich bekomme alles, was ich will. Eine Nacht gebe ich dir, um dich mit deinem Alten zu bereden!“, und wie er das sprach, bäumte sich sein Pferd auf und ließ ein wütendes Schnauben vernehmen. Anna erschrak, stand auf und rannte mit weichen Beinen davon. In der Eile hatte sie gar ihr Körblein vergessen, das nun halbvoll im Grase lag. Daheim erzählte sie dem Vater alles, worauf beide beschlossen gleich am nächsten Morgen zum Kloster Wendhusen zu gehen, dort um Zuflucht zu bitten. Dort wäre Anna sicher, doch dazu sollte es nicht kommen:

Mitten in der Nacht brach im Hof Lärm aus. Pferdehufe waren zu hören, Geschrei von Männern, der kläffende Hofhund; dann, wie die Türe zum Haus eingetreten wurde und Fremde ins Haus stürmten. Ihr Vater, der nach dem Rechten sah, wurde vor ihren Augen niedergestreckt. Zwei Mannen der Löwenburg zerrten sie aus dem Haus und hievten sie dem gefürchteten Raubritter aufs Pferd. Der lachte voller Hohn und deutete auf das in Flammen aufgehende Bauerngehöft: „Ich sagte es dir, bekomme ich dich nicht, bekommt dich niemand. Du hättest besser daran getan, mir gleich zu folgen!“
Annas Herz stockte und auch ihr Geist schien ihr nicht mehr folgen zu wollen – alles war so schnell gegangen – war es Wirklichkeit oder ein Traum? Nein, es war zu bitter, es schmerzte zu sehr, um nicht wirklich zu sein. All die Traurigkeit verschnürte ihr das Herz, machte es eng, so eng, dass sie keine Luft zu bekommen drohte. Ihr lieber Vater, ihr Zuhause – all das, was ihr von Herzen wichtig war, gab es nicht mehr; nur noch diesen grausamen Moment, den Schmerz und ihren Geist, der nicht mehr gehorchte, der machte, dass sie wie leblos auf dem Pferderücken hing. Doch plötzlich, wurde ihr ganz still und klar zumute, wie ein See der in windstiller Nacht den vollen Mond widerspiegelt. „Gott, bevor ich das Weib dieses Mannes werde, lass meinen Körper zu Staub zerfallen. Ich bitte dich, nimm meine Seele, nimm mich zu dir, gleich jetzt!“
Der Raubritter war mit seiner „Beute“ gerade über die Elfenwiese geritten, nicht mehr lang, dann wäre er auf seiner Feste, als er Zeuge eines seltsamen Phänomens wurde. Sein Ross war ebenso davon ergriffen, immer langsamer trabte es, bis es wie gebannt zum Stehen kam Ein seltsames Licht umgab den Tross, kleine Nebelsäulen drehten sich links und rechts von ihrer Spur und ein süßer unbekannter Duft lag in der Luft. „Was für ein Zauber ist das?“, fragte der Ritter mehr zu sich selbst, als die Nebelschwaden sich schneller zu drehen begannen, größer und weiter wurden und nun selbst alle Reiter umfingen. Totenstill war der Wald und selbst der mutige Raubritter, wagte es kaum mehr zu atmen.

Und plötzlich, ... war der Spuk vorbei, so rasch wie er begann. Schon wollte er stolz in die Nacht hinauslachen und zum Weiterreiten anspornen, als er das wunderschöne Weib besah und ... dabei spürte, wie leblos ihr Körper auf dem Pferderücken hing.
Wie erschrak er da, als er feststellte, dass sie tatsächlich vom Schnitter geholt worden und wie nah er selbst diesem gekommen war. Alsgleich ließ er die tote Hülle sorgsam zu Boden gleiten und stürmte auf seinem Ross von dannen. All seine Gier, sein freudvoller Eifer, sein Stolz und seine Stärke blieben bei der Toten zurück. Ein einziges Gefühl griff nun nach seinem eisernen Herzen, bemächtigte sich dessen, schleichend, zwängend, unbarmherzig – das war Angst! Und als er sich ermattet zum Schlafe niederlegte, sich ruhelos auf der Streu hin und her wälzte, wie es dunkler und enger um ihn wurde, da spürte er bereits, wie sich der Schnitter nahte.

Und am anderen Morgen, ... da ging die Sonne über der Elfenwiese und auch über der Löwenburg auf und war doch an beiden Orten, die so nahe beieinanderlagen, eine ganz andere. Auf der Elfenwiese stand nun eine blaue Blume, genau an der Stelle, an der in der Nacht noch Annas Körper lag. Und diese blaue Blume, die wärmte die Sonne nun, die wurde sorgsam liebkost mit all ihren zarten, orangenen Strahlen. Auf die Löwenburg hingegen, brannte die Sonne unbarmherzig hernieder, heiß war es da, so heiß, dass der Mörtel allmählich zu bröckeln begann und der tiefe Burgbrunnen bald schon für alle Ewigkeit trocken liegen sollte.
Und wer diese blaue Blume findet, der hat, so weiß es die Sage zu erzählen, einen Wunsch frei. Doch dieser Wunsch, lasst euch gewarnt sein, will nur gut bedacht geäußert werden.

 

(aufgeschrieben von Carsten Kiehne, in: "Die bekanntesten Sagen aus dem Ostharz", März 2017)